Essays zum Tango
Es ist der Bühnentanz, der den Tango in unserer Zeit weltberühmt gemacht hat: der Reiz und die Vielfalt seiner Figuren haben das Fernsehen und die Theatersäle überall auf der Welt erobert. Diese Art von Tango basiert darauf, dass die Tanzpartner relativ weit von einander entfernt sind: so lassen sich auch komplexe Figuren tanzen, die selbst in Räumen mit fünfhundert Zuschauern noch optisch attraktiv wirken. In Sälen dieser Größe wäre es kaum möglich, die Feinheiten eines eng getanzten Tangos zu genießen - weder die Körperbewegung noch die Beinarbeit des Paares würden aus solcher Distanz besonders interessant erscheinen.
Ganz anders beim Showtango: die Schritte aus dem Salontango sind hier nur die Basis für eine ausgefeilte Choreographie, die mit ihren Kunststückchen möglichst die ganze Bühne füllt - und das ist sehr viel, verglichen mit einer normalen Tanzfläche. Wesentlich für eine Bühnenshow ist außerdem, dass die Choreographie immer frontal auf die Zuschauer hin ausgerichtet ist - man will sich schließlich von der besten Seite zeigen.
Der Tango verdankt den Bühnentänzern sehr viel - sie haben ihn weltberühmt gemacht: mit viel Talent und Inspiration, aber auch mit Tanzerfahrung und vielen Stunden harter Arbeit. Man kann sogar sagen, dass die Bühne den Tango gerettet hat - ohne sie hätte er sich als einer unter Dutzenden von exotischen Volkstänzen vielleicht weiter im Kreis gedreht und wäre mit den letzten milongueros ausgestorben. Der Bühnentango hat den Herzschlag der Kultur von Buenos Aires mit dem der ganzen Welt synchronisiert.
Die Wiege des Tangos aber stand im Salon - dort, wo der Tanz noch immer lebendig ist. Dort lebt der Tango von der Leidenschaft, die in einem Paar erwacht und wächst, und von seiner speziellen Art, mit dem Raum und dem Rhythmus umzugehen.
© Susana Miller 1995; © für diese Übersetzung: Christian Jähne 1996
Beim Schreibenlernen darf man als Kind zunächst ganze Seiten mit Kringeln vollmalen. Wenn man andere Tänze lernt, dann beginnt man normalerweise mit einfachen Übungen, die erst einmal einen Kontakt herstellen zwischen dem körperlichen Erinnerungsvermögen des Lernenden und dem Wesen und der Bewegungssprache des jeweiligen Tanzes. Die Wiederholung einfacher Schritte in Kommunikation mit der Musik und dem Partner kann fast meditativ wirken - wie ein Mantra. Mit der Wiederholung und Variation eines Leitmotivs erwirbt man eine einfache, schöne und kommunikative Sprache. Durch diese Sprache identifiziert sich der Tänzer mit dem Tanz, den er erschafft - auch auf engstem Raum, ja sogar im Stehen. Wenn aber diese Identifikation mit der eigenen Sprache fehlt, dann werden die Schritte nur mit den Füßen gesetzt, als wäre der Rest des Körpers unbeteiligt. Dann werden Abfolgen von Schritten trainiert, die später gar nicht tanzbar sind und einer korrekten und effizienten Haltung nur im Weg stehen. Aus dem Tanz wird dadurch tote Choreographie ohne Bedeutung - man benutzt zwar Tangoschritte, doch man tanzt nicht Tango.
© Susana Miller 1995; © für diese Übersetzung: Christian Jähne 1996
Wenn man die gängigen Tangotexte ernst nimmt, bekommt man den Eindruck, dass der Tango den Männern gehört - uns Frauen bleibt höchstens die Opferrolle. Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass fast alle diese Texte von Männern stammen und einige Jahrzehnte alt sind - sie reflektieren die Macho-Werte und -Vorurteile ihrer Zeit. Klar, dass Frauen in diesen Texten nicht gut wegkommen. Die milonguita war ein dummes Ding, betört von den Lichtern der Großstadt - und seit dieser Zeit machen Tangotexte die Frauen schlecht. Fast immer werden sie als passiv dargestellt - und deshalb werden sie ausgenützt. "Die Männer haben dir weh getan", so heißt es etwa, oder: "Sie war nur eine Chromleiste am Nobelschlitten dieses Angebers": und, natürlich: "auch andere Frauen sind schwach geworden wie sie". In Tangotexten hat eine Frau ihr Schicksal nicht in der Hand - ein Mann bringt sie auf Abwege. Fast immer ist sie Spielzeug für einen Moment, und was ihr bleibt, ist ein Verlust, der sie auslöscht. Bezeichnend der wohlmeinende Ratschlag, den der Tangotexter Celedenio Flores den Frauen in seinem Tango "¡Atenti, pebeta!" (Pass auf, Mädchen!) gibt: "Dein Rock sollte mindestens bis zum Knöchel gehen!"
© Lidia Ferrari 1996; © für diese Übersetzung: Christian Jähne 1996
„Das stimmt.“ sagte er. „Es macht mir wirklich Spaß, diesen Puppen zuzuschauen. Und ein Tänzer, der weiter kommen will, kann manches von ihnen lernen.“
Ich war zunächst überrascht von dieser Äußerung, merkte aber sofort, dass er es durchaus ernst meinte; und so setzte ich mich neben ihm auf eine Bank. „Das müssen Sie mir genauer erklären.“
„Finden Sie nicht auch, dass sich die Puppen, besonders die kleineren, ganz graziös bewegen?“
Das konnte ich nicht leugnen. Eine Gruppe Bauern aus der Pampa, die in raschem Takt eine Chacarera tanzte, hätte es nicht besser gekonnt.
Ich konnte mir jedoch kaum vorstellen, wie man die einzelnen Glieder der Marionette korrekt bewegen sollte, ohne sich in hundert Fäden zu verheddern - und das auch noch im Rhythmus des Tanzes. Also erkundigte mich nach dem Mechanik der Figuren.
„Im Prinzip ist es gar nicht so schwer, denn die Glieder müssen selten einzeln bewegt werden. Jede Bewegung hat ihrenen Schwerpunkt, und es genügt völlig, den zu kontrollieren. Die Glieder sind einfache Pendel und folgen der Bewegung des Schwerpunkts von selbst.“
Dessen Bewegung aber sei einfach, fügte er hinzu. „Denn selbst wenn der Schwerpunkt nur auf gerader Linie geführt wird, machen die Glieder der Puppe schon Kurvenbewegungen. Selbst eine zufällige Erschütterung versetzt die Marionette in rhythmische Bewegung, und schon tanzt sie.“
Ich verstand nun, was ihn an den Dingern faszinierte; welch weitreichende Folgerungen er aber daraus ableiten würde ahnte ich noch nicht.
© Christian Jähne 2009